
Zugegeben, die Erwartungen an eine künftige Regierung waren schon nicht besonders groß, als ÖVP, SPÖ und Neos ihre Verhandlungen begannen. Nahezu alle Meinungsbildner im Lande rechneten damit, dass große Reformvorhaben aufgrund der notwendigen Kompromisse auf der Strecke bleiben würden. Auf den ersten Blick meinten einige, dass FPÖ und ÖVP sich leichter tun würden. Der zweite Blick ist mehr als ernüchternd. Von wegen "kein weiter wie bisher", wie es Ober-Populist Kickl formulierte. Die Apparatschiks in beiden Parteien ergötzen sich an nebulosen Nebenthemen wie Tempo 150 auf der Autobahn oder höheren Passgebühren. Das Budget-Problem wurde schnell und oberflächlich abgehakt, um einem Defizit-Verfahren der EU zu entgehen. Man streicht ein paar teure Förderungen, die einen grünen Stempel haben, und verspricht salopp 15% Einsparungen in den Ministerien. Wie das gehen wird, weiß keiner. Weniger Lehrer, weniger Polizisten? Kürzungen bei AMS-Kursen, Nulllohnrunden für Beamte?
Die wirklich großen Probleme des Landes werden ignoriert
Die großen Probleme dieses Landes wurden von Wirtschaftsforschern, OECD, EU-Kommission und anderen Experten schon mehrfach aufgezeigt: Ein zu teures und nicht nachhaltiges Pensionssystem, Reformbedarf im Gesundheitssystem inklusive Pflege, Doppel- und Mehrfachgleisigkeiten durch den Föderalismus. Dazu stecken wir seit zwei Jahren in einer Rezession, die Wirtschaft stöhnt unter zu viel Bürokratie und hohen Belastungen (Energie, Lohnnebenkosten).
Und was machen die aktuellen Parteichefs? Ihre erste Priorität ist (ernsthaft), ihre Wahlversprechen einzulösen (Vorsicht Ironie!). An den seltsamen Babler-Fantasien zur Schröpfung der Reichen scheiterte der ohnedies zaghafte erste Versuch einer Regierungsbildung. Jetzt setzt Kickl mit seinen fixen Ideen ("Festung Österreich", Goodies für Corona-Leugner usw.) noch einen drauf. Die ÖVP wiederum scheint ganz froh, ihnen unangenehme Reformen (Föderalismus, Gesundheit) gar nicht ernsthaft diskutieren zu müssen und fürchtet nur - wohl zu Recht - dass der blaue Kanzler sich auf EU-Gipfeln als Orban-Klon profilieren will und Österreich zum Außenseiter in einer Gemeinschaft machen will, die sich gegen den Aggressor Putin stellt und verzweifelt gemeinsam gegen die zunehmende Abhängigkeit von China und den USA kämpft.
Statt auf das Land schauen sie auf Umfragewerte und ihre Klientel
Zurück ins Inland: Sollte es zu Blau-Türkis kommen, können die Experten ihr altes Lied vom großen Reformbedarf erneut anstimmen. Es wird keine Pensionsreform geben. Es wird sich strukturell nichts ändern am Gesundheitssystem, die oft beschworene Finanzierung aus einer Hand bleibt ein Phantom-Projekt. Der Faktor 9 (=Bundesländer) wird weiter eine große Rolle spielen und zu Verteuerungen und Bürokratie-Auswüchsen führen. Hier wäre mittelfristig viel Geld zu holen, das man dringend für Zukunftsthemen benötigt. Die Energiewende bleibt auch ohne grüne Regierungsbeteiligung ein Hauptthema für die Zukunft, an dem man nicht vorbeikommt.
Das haben sich die Wähler nicht verdient, dass Parteien nur wenige Wochen nach den Wahlen nur Umfragewerte und die nächsten Urnengänge im Blick haben und ihre Machtpositionen festigen wollen. Sie versuchen, ihre Klientel bedienen, anstatt Österreich nach vorne zu bringen. Dass es ihnen darum geht, das Land aus der Rezession zu führen und die Wirtschaft in Schwung zu bringen, wird zwar behauptet, ist so wohl nicht möglich. Leider ist derzeit überhaupt kein Szenario zu sehen, dass Besserung bringen würde. Neuwahlen würden kaum etwas ändern, außer dass neue Gesichter zu sehen sind. Aber einen nationalen Schulterschluss, bei dem mehrere Parteien an einem Strang ziehen um die oben erwähnten Probleme ernsthaft anzugehen, das ist angesichts des vorherrschenden politischen Egoismus eine Illusion.
Comments